Europa: Verteidigungsfähig, aber nicht verteidigungswillig

Einleitung:

Inmitten der wachsenden geopolitischen Spannungen und angesichts potenzieller militärischer Bedrohungen stellt sich die Frage, ob Europa tatsächlich in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen – und noch wichtiger, ob die Gesellschaften bereit sind, diese Verteidigung in die Tat umzusetzen. Westeuropa hat eine lange Friedenszeit erlebt und sich weitgehend auf den Schutzschirm der NATO und insbesondere auf die USA verlassen. Doch zunehmend werden in Europa nicht nur militärische, sondern auch gesellschaftliche und politische Unsicherheiten wahrgenommen, die die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Verteidigung in Frage stellen. Dieses Thesenpapier untersucht, warum Europa zwar über die nötige militärische Kapazität verfügt, aber gleichzeitig vor enormen Herausforderungen steht, wenn es darum geht, eine Gesellschaft zu mobilisieren, die demokratische Werte und Rechtsstaatlichkeit im Falle eines grossen Krieges verteidigen möchte.

These 1:

Die „Freiheitsverwöhnten“ Generationen und der Mangel an Erfahrung mit der Notwendigkeit der Verteidigung

In den letzten Jahrzehnten des Friedens ist in Europa eine Generation gewachsen, die die Schrecken des Krieges nicht mehr direkt erlebt hat und deren historische Perspektive stark von der Stabilität des Friedens geprägt ist. Die Generationen, die heute in Europa leben, haben keine Erfahrung mit der Notwendigkeit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen, da diese Prinzipien als selbstverständlich gelten. In der Abwesenheit einer realen Bedrohung haben die Menschen das Bewusstsein für den Wert und die Zerbrechlichkeit dieser Freiheiten verloren. Die Vorstellung, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit jederzeit verteidigt werden müssen, wird von vielen nicht mehr ernst genommen. Die Bereitschaft, diese Freiheiten zu verteidigen, könnte im Falle eines realen Konflikts daher stark eingeschränkt sein.

These 2:

Der wachsende Misstrauen gegenüber den Institutionen und die politische Polarisierung als Bedrohung der Verteidigungsbereitschaft

Seit den letzten Jahren ist ein zunehmendes Misstrauen gegenüber politischen Institutionen zu beobachten. Besonders die Massnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie haben in vielen europäischen Ländern das Vertrauen in den Staat erschüttert. Zahlreiche Bürger fühlten sich durch autoritäre Massnahmen bevormundet und von der politischen Führung entfremdet. Gleichzeitig gewinnen populistische und antidemokratische Parteien, die staatliche Autorität infrage stellen oder diese gar ablehnen, immer mehr Zulauf. In einer Gesellschaft, in der der Widerstand gegen den Staat und die Demokratie zunehmen, ist die Bereitschaft zur Verteidigung dieser Werte gefährdet. Antidemokratische Bewegungen könnten den militärischen Einsatz des Staates als illegitim oder als Instrument der Unterdrückung ansehen und sich dagegen stellen. Die wachsende politische Polarisierung verhindert eine Einigung auf die Notwendigkeit, die Demokratie im Falle eines Krieges zu verteidigen.

These 3:

Die Zunahme von Desinformation und die Fragmentierung des Wissensstands durch soziale Medien

Während während der beiden Weltkriege eine relativ zentrale und kontrollierte Informationspolitik über staatliche Medien existierte, sind die Medienlandschaft und die Informationsverbreitung heute vollkommen anders strukturiert. Durch private und soziale digitale Medien haben die Menschen Zugang zu einer Fülle an Informationen, die oft unkontrolliert und fragmentiert verbreitet werden. Dies führt zu einer radikalen Verschiedenheit in der Wahrnehmung der Bedrohungslage. Informationen sind nicht mehr zentral steuerbar, und die Wahrnehmung von „Wahrheit“ wird zunehmend relativiert. Diese Fragmentierung führt dazu, dass ein grosser Teil der Bevölkerung unterschiedliche – oft gegensätzliche – Informationen erhält, was die gesellschaftliche Mobilisierung im Falle eines grossen Krieges erheblich erschwert. Desinformation und Fake News könnten nicht nur das Vertrauen in die Institutionen weiter untergraben, sondern auch zu Verwirrung und Spaltung innerhalb der Gesellschaft führen.

These 4:

Die physische und mentale Verfassung der Soldaten von morgen

Während die militärischen Ressourcen in Westeuropa heute als ausreichend betrachtet werden, stellt sich die Frage nach der Einsatzfähigkeit der Soldaten, die diese Ressourcen nutzen sollen. Viele junge Menschen in Europa, die heute als zukünftige Soldaten in Betracht gezogen werden könnten, sind mental und physisch oft nicht auf den Ernstfall eines Krieges vorbereitet. Die körperliche Fitness sowie die psychische Belastbarkeit der breiten Bevölkerung und der potenziellen Rekruten sind in Zeiten von Wohlstand und Friedenszeiten in vielen Fällen geringer als in der Vergangenheit. Zudem führt die wachsende Technologisierung und Automatisierung in der Kriegsführung dazu, dass viele zukünftige Soldaten nicht mehr die körperliche und mentale Ausdauer besitzen, die für den aktiven Dienst in einem „grossen Krieg“ erforderlich wäre. Ohne die nötige Ausbildung und mentale Stärke könnte die Mobilisierung einer solchen Armee deutlich ineffizienter verlaufen und die Verteidigungsbereitschaft weiter mindern.

These 5:

Die geopolitische Unsicherheit und der Rückzug der USA aus der globalen Sicherheitsarchitektur

Bislang konnten sich westeuropäische Länder auf den Schutzschirm der USA und die NATO verlassen, um im Falle eines Konflikts Unterstützung zu erhalten. Doch mit der neuen geopolitischen Ausrichtung unter Präsident Donald Trump und der damit verbundenen Nationalisierung der US-Aussenpolitik ist diese Sicherheit zunehmend fraglich. Trump verfolgte eine Politik des „America First“, die zu einem Rückzug der USA aus der globalen Sicherheitsarchitektur führte und Zweifel an der langfristigen Verlässlichkeit der US-Verteidigung gegenüber Europa aufwarf. Sollte es zu einem grossen Krieg in Europa kommen, besteht die Gefahr, dass die USA sich nicht aktiv in den Konflikt einbringen, sondern Europa „sich selbst überlässt“, um sich auf die Herausforderungen in der Region des Südpazifischen Raums zu konzentrieren. Ein solcher Rückzug könnte die geopolitische Isolation Europas und die Notwendigkeit einer eigenen Verteidigungsstrategie weiter verstärken. Die Sorge, dass die USA den europäischen Staaten im Falle eines grossen Krieges nicht mehr beistehen, könnte das Vertrauen in die kollektive Sicherheit weiter schwächen.

These 6:

Der Solidarisierungseffekt und die Fähigkeit zur kollektiven Verteidigung

In Krisenzeiten kann sich eine Gesellschaft schnell mobilisieren, wenn eine wahrgenommene Bedrohung das gesamte Volk betrifft. Der Solidarisierungseffekt in der Bevölkerung könnte zu einer stärkeren Bereitschaft führen, für die Verteidigung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einzutreten. Allerdings gibt es in Europa eine zunehmende Unsicherheit darüber, ob dieser Effekt noch in der gleichen Form existiert. In einer zunehmend individualisierten Gesellschaft, in der nationale und europäische Identitäten oft durch lokale und regionale Identitäten ersetzt werden, könnte die Bereitschaft zur kollektiven Mobilisierung stark eingeschränkt sein. Zwar gibt es in vielen Ländern eine hohe Bereitschaft zur Solidarität mit der eigenen Bevölkerung, jedoch ist diese Solidarität bei einem militärischen Konflikt möglicherweise nicht so selbstverständlich wie in der Vergangenheit. Dies könnte insbesondere dann problematisch werden, wenn sich die Bedrohung nicht klar als „Feind“ manifestiert oder wenn es keine klare gemeinsame Front gibt.

Fazit:

Europa steht an einem Wendepunkt. Zwar ist Westeuropa militärisch in der Lage, sich im Falle eines Konflikts zu verteidigen, jedoch mangelt es an einer breiten gesellschaftlichen Bereitschaft, diese Verteidigung aktiv umzusetzen. Die jüngeren Generationen haben keine direkte Erfahrung mit der Notwendigkeit, für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu kämpfen, und die politische Polarisierung in vielen europäischen Ländern erschwert die Schaffung eines Konsenses, diese Werte zu verteidigen. Die zunehmende Fragmentierung des Wissensstandes durch soziale Medien und die Verbreitung von Fake News sowie die physische und mentale Unvorbereitetheit vieler potenzieller Soldaten stellen zusätzliche Hürden dar. Gleichzeitig hat sich die geopolitische Lage verändert: Der Schutzschirm der USA und der NATO wird zunehmend infrage gestellt, was das Vertrauen in die kollektive Sicherheit Europas schwächt. Sollte es zu einem grossen Krieg kommen, wird Europa nicht nur mit äusseren Bedrohungen, sondern auch mit einer Gesellschaft konfrontiert, die in ihrer Bereitschaft zur Verteidigung gespalten ist.
In diesem Kontext bleibt die Frage, ob Europa tatsächlich in der Lage und bereit ist, seine Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in einem grossen Konflikt zu verteidigen. Der „grosse Krieg“ der Zukunft könnte nicht nur ein militärischer, sondern auch ein gesellschaftlicher Kampf um die Werte werden, die Europa in den letzten Jahrzehnten geprägt haben.

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